Dezember
2010
Futter fürs Phrasenschwein
Geschrieben von Michael Hohner am 19. Dezember 2010, 17:48:26 Uhr:
Ab dem 1. Januar 2011 ist es für Journalisten im Allgemeinen und besonders im Wissenschaftsressort verboten, die folgenden Phrasen und Begriffe zu verwenden. Bei Zuwiderhandlung sind 5 Euro ins Phrasenschwein zu stecken. Aus dem Erlös am Ende von 2011 wird ein Volontariat finanziell unterstützt.
„Die Theorie von Allem”, „Weltformel”
Gemeint ist eine gemeinsame Theorie aller physikalischen Grundkräfte, also von Elektromagnetismus, schwacher Kernkraft (die bereits vereinigt wurden), starker Kernkraft und Gravitation. Egal, ob eine der Stringtheorien diese Vereinigung darstellen wird oder nicht, eines ist sicher: Diese Theorie erklärt keinesfalls „alles” und noch nichtmal unsere kleine Welt. Für 99% aller Wissenschaftler ist es völlig irrelevant, ob die Grundkräfte gemeinsam beschrieben werden können oder nicht. Es wird durch die Vereinigungstheorie zu keinen neuen Erkenntnissen in z. B. der Biologie kommen.
„Was die Wahrheit ist, das soll jeder für sich entscheiden.”
Dieser Satz ist mir erst kürzlich wieder bei einer Besprechung des Films „Am Anfang war das Licht” zu Ohren gekommen. Was bedeutet dieser Satz? Er ist nur eine Standardfloskel von Journalisten, die zu faul sind, mehr als nur dünne Bretter zu bohren. Eine eigene Recherche findet nicht statt. Man kennt sich nicht nur nicht aus, man ist auch nichtmal gewillt, diejenigen zu fragen, die sich auskennen. Damit verweigert der Journalist seinen Job, nämlich einen Sachverhalt zu recherchieren und dem Leser/Zuschauer/Zuhörer zu vermitteln.
Erhöhte Strafe: 10 Euro ins Phrasenschwein.
„Das Gottesteilchen”
Die Suche nach dem Higgs-Boson ist eine der spannendsten Fragen in der Teilchenphysik. Sowohl ein Nachweis dieses Teilchens als auch das Ausbleiben eines solchen Nachweises hat wichtigen Einfluss auf das Standard-Modell der Teilchenphysik. Auch auf die Kosmologie wirken sich die Ergebnisse aus, denn das Higgs-Boson ist ein Kandidat für die WIMPs, die eventuell einen Teil der dunklen Materie ausmachen. Kein Wunder also, dass die Forschungsgemeinschaft der Welt so viel Geld in den LHC gesteckt hat und weiter stecken wird, denn das ist eine der Fragen, die der LHC beantworten soll.
Nur mit einer Sache hat das Higgs-Boson rein gar nichts zu tun: Mit übernatürlichen Wesen. Leon Lederman hat das Higgs-Boson im Scherz als „God Particle” bezeichnet. Und die Sensationspresse hat den Witz nicht verstanden und plappert ihn ohne Verstand nach.
„Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.”
Hört man öfter von Leuten aus der Politikredaktion, die sich ins Wissenschaftsressort verirrt haben. Am schlimmsten wird diese Phrase gedreschtgedroschen, wenn Realität und Blödsinn scheinbar gleichberechtigt gegenübergestellt werden. Nur findet sich in diesen Fällen die Wahrheit nicht in der Mitte. Diese fehlgeleitete Ausgewogenheit ist hier nicht angebracht.
„Durchbruch”
Immer wenn bei einer Meldung das Wort „Durchbruch” fällt, kann man sich fast sicher sein, dass es sich um einen solchen nicht handelt (außer, es geht um eine schwere Blinddarmentzündung). Praktisch immer ist Forschung inkrementell und erfolgt in kleinen Schritten. Auf mehr als ein oder zwei echte Durchbrüche pro Jahrhundert darf man nicht hoffen.
„unerklärlich für die Wissenschaft”
Erstens ist der Sachverhalt in den meisten Fällen nicht unerklärlich. Nur der Schreiberling kannte die Erklärung nicht. Und er kannte auch niemanden, der die Erklärung kennt.
Zweitens sind wirkliche Erklärungsprobleme in der Regel vorübergehend. An Stelle des absoluten „unerklärlich” sollte das einschränkende „unerklärt” oder besser „bisher unerklärt” verwendet werden. Dann wirkt der Artikel nicht mehr ganz so lächerlich, wenn später die Erklärung doch noch gefunden wird.
„Paradigmenwechsel”
Ähnlich wie „Durchbruch”, nur noch hochtrabender. In die Geschäftswelt entfleucht und dort inflationär gebraucht. Da gilt es schon bald als „Paradigmenwechsel”, wenn man eine andersfarbige Krawatte trägt. Thomas Kuhn rotiert im Grab.
„Missing Link”
Die Vorstellung von Evolution als lineare oder gar zielgerichtete Veränderung von einer Form zur anderen war schon zu Darwins Zeiten überholt. Je nachdem, welche Kriterien man ansetzt, gibt es gar keine „Missing Links” oder Millionen. Der Begriff ist seit Darwin nicht mehr sinnvoll. Er sollte direkt neben den zugehörigen Theorien begraben werden.
„Lebendes Fossil”
Neben dem offensichtlichen Widerspruch, dass Fossilien per Definition nicht mehr leben, produziert dieser Begriff nur Missverständnisse. Wenn einige heutige Lebensformen noch erhebliche Ähnlichkeiten mit sehr alten Vorgängerformen haben, heisst das nicht, dass bei diesen Lebensformen die Evolution langsamer verläuft als bei anderen. Die äußere Gestalt ist nur eine Ausdrucksform der DNS dieser Tiere und Pflanzen. Andere Ausdruckformen wie Verhalten, Stoffwechsel, Lebenszyklus usw. sind nicht unmittelbar am Fossil zu erkennen. Erbgutuntersuchungen an lebenden Formen und erst kürzlich ausgestorbenen Formen (z. B. Mammuts) haben gezeigt, dass die Mutationsrate relativ konstant ist. Diese kann sich, je nach Selektionsdruck und -richtung, in einer schnellen oder langsamen äußerlichen Veränderung niederschlagen. Zwei äußerlich wenig unterschiedliche Formen können sich auf molekularer Ebene erheblich unterscheiden.
„Die Forscher waren erstaunt…”
Natürlich waren sie das. Andernfalls wäre das ja wohl kaum eine Meldung wert. Wer will schon lesen, dass die Forscher genau das gefunden haben, was sie schon vorher wussten und erwartet haben.
„Quantensprung”
Immer wenn „Quantensprung” im Sinne von „großer Fortschritt” gebraucht wird, stirbt irgendwo ein Teilchenphysiker.