RatioBlog
Kritische Betrachtungen über Naturwissenschaften, Alternativmedizin, Alltagsmythen, Parawissenschaften und Wissenschaft in den Medien

20.
Juli
2010

Warum Pseudomedizin nicht totzukriegen ist

Geschrieben von Michael Hohner am 20. Juli 2010, 07:20:14 Uhr:

In der Welt gab es ja etliche vorwissenschaftliche Konzepte, die man schon lange als tot bezeichenen könnte. Beispiel Alchemie, also die Idee, man könne unedle Metalle durch allerlei Verfahren (die wir heute als „chemisch” bezeichnen würden) in edle Metalle wie Gold verwandeln. Tausende haben sich daran erfolglos probiert. Irgendwann hat auch der Letzte eingesehen, dass das nicht funktioniert. Als dann die moderne Wissenschaft geboren war, kam man nach und nach auch darauf, wie Materie aufgebaut ist, was der grundsätzliche Unterschied von z. B. Blei und Gold ist, und was chemische Reaktionen können und nicht können. Man weiß also schon lange nicht nur, dass Alchemie nicht funktioniert, sondern auch warum sie nicht funktioniert. Spätestens mit diesen tieferen Erkenntnissen ist die Alchemie zu einem Kapitel der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte geworden und wird von niemandem mehr ernsthaft vertreten.

Warum ist das nicht genauso bei pseudomedizinischen Konzepten wie Akupunktur, Homöopathie oder Auramedizin der Fall? Warum erfreuen sich diese immer noch so großer Beliebtheit? Akupunktur und alle Arten von Auramedizin stützen sich auf das vorwissenschaftliche Konzept der Lebensenergie Qi und deren Fluss im Körper. Nur hat die Medizin keinerlei anatomische Strukturen für die postulierten Energiebahnen gefunden. Auch eine physikalische Messung von Qi oder einer Aura verlief immer ergebnislos. Im Kontext aller sonstigen Erkenntnisse der Medizin, Chemie und Physik ist das Konzept einer Lebensenergie gänzlich unplausibel und unnötig. Wir wissen heute, warum diese Art der Medizin nicht funktioniert, und jede qualitativ hochwertige klinische Studie hat gezeigt, dass diese Verfahren nicht funktionieren.

Ähnlich ist das bei der Homöopathie, bei der eine Grundidee ist, man könne eine Lösung beliebig verdünnen, und es bliebe immer noch eine Lösung des ursprünglichen Stoffes. Diese Idee stammt aus einer Zeit, als man noch nicht wusste, dass Materie aus diskreten Atomen und Molekülen zusammengesetzt ist. Bei immer weiterer Verdünnung ist irgendwann der Punkt erreicht, ab dem vom gelösten Stoff nicht weniger, sondern sogar gar nichts mehr vorhanden ist. Spätestens ab diesem Punkt unterscheidet sich die Lösung in nichts mehr vom puren Lösungsmittel. Seit Avogadro können wir dieses Verdünnungsverhältnis genau angeben (es ist 1 : ([Stoffmenge der Lösung in Mol] × 6,0221353 × 1023)). Ebenso wissen wir heute, dass eine chemische Reaktion immer proportional zur Stoffmenge abläuft. Weniger Stoff, weniger Reaktion, kein Stoff, keine Reaktion. Wir wissen also heute ganz genau, warum Homöopathie nicht funktioniert, und jede qualitativ hochwertige klinische Studie hat gezeigt, dass sie nicht funktioniert.

Was ist also der Unterschied zwischen z. B. Alchemie und Akupunktur?

Der Placeboeffekt

Unter dem Placeboeffekt versteht man die subjektive Verbesserung von Symptomen, die nicht durch die spezifische Wirkung eines Medikaments oder einer Behandlung hervorgerufen wird, sondern alleine durch die Erwartung einer Verbesserung. Der Placeboeffekt selbst war und ist Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen. Einen Placeboeffekt gibt es vor allem bei subjektiven, diffusen und nicht direkt messbaren Symptomen, wie z. B. Schmerzen, Übelkeit, Schwindel, und bei Parametern, die vom vegetativen Nervensystem gesteuert werden, wie Herzfrequenz, Blutdruck, Schwitzen usw. Bei rein organischen Krankheiten wie z. B. Krebs, Entzündungen usw. wurde bisher kein Placeboeffekt festgestellt (Placebos regen also nicht, wie oft behauptet wird, die Selbstheilungskräfte an). Die Größe des Effekts steigt auch mit der Größe der Erwartung. Eine Beratung und Trost wirken stärker als Nichtstun, eine Tablette wirkt stärker als eine Beratung, eine bunte Tablette wirkt stärker als eine weiße Tablette, zwei Tabletten wirken stärker als eine, eine Kapsel wirkt stärker als eine Tablette, eine große Kapsel wirkt stärker als eine kleine, eine Einnahme unter Aufsicht wirkt stärker als eine Einnahme alleine, ein Arzt mit drei Assistenten und in weißen Kitteln wirken stärker als ein Arzt in Zivil, eine Injektion wirkt stärker als eine Tablette, eine Scheinoperation wirkt stärker als eine Injektion. Der Wirkung eines Placebos kann man sich nicht entziehen. Auch wenn man explizit erklärt bekommt, dass eine Tablette keinen Wirkstoff enthält, ist im Schnitt eine stärkere Wirkung festzustellen als ohne Behandlung. Auch den umgekehrten Effekt, den Noceboeffekt, gibt es. Die pure Erwartung von negativen Wirkungen kann diese hervorrufen. Wenn in einer Studie den Probanden erklärt wird, dass das Medikament auch Übelkeit als Nebenwirkung hervorrufen kann, dann wird man auch in der Placebogruppe eine gesteigerte Anzahl von Fällen mit Übelkeit feststellen. Und zuguterletzt gibt es den Placeboeffekt nicht nur bei den Patienten, sondern auch bei den behandelnden Personen. Dies wieder besonders dann, wenn die Symptome diffus und kontinuierlich sind und von der behandelnden Person subjektiv eingeschätzt werden. So kann ein Placeboeffekt auch bei der Behandlung von Tieren festgestellt werden. Das Tier hat selbst keine Erwartungshaltung, aber die Person, die den Verlauf und Erfolg der Behandlung beurteilt.

Wenn also ein Akupunkteur ein Beratungsgespräch mit dem Patienten hat, diesen berührt und in entspannter Atmosphäre mit viel Brimborium ein paar Nadeln in die Haut sticht, dann wird es eine subjektive Verbesserung beim Patienten geben, alleine durch die Erwartung der Verbesserung. Ob es darüber hinaus noch eine Verbesserung gibt, die durch eine spezifische Wirkung der Akupunktur hervorgerufen wird, testet man üblicherweise durch einen Vergleich mit anderen Patienten, bei denen alles genauso gemacht wird, außer dass sie eine Scheinbehandlung, das Placebo, erhalten. Bei Medikamenten ist das einfach. Eine Tablette herzustellen, die genauso aussieht und schmeckt wie eine richtige, jedoch keinen Wirkstoff enthält, ist einfach. Ein Placebo für Akupunktur zu erfinden, ist schwierig. Deswegen schien es lange Zeit so, als ob Akupunktur tatsächlich einen spezifischen Effekt hat. Je besser jedoch die Placebos wurden (erst Pieksen mit Zahnstochern, dann Stechen an den „falschen” Stellen, dann Verwenden von Nadeln, die sich wie Theaterdolche in den Griff zurückschieben, statt tiefer in die Haut einzudringen), desto geringer wurde der feststellbare Effekt, bis er im Zufallsrauschen verschwand.

Anders ist das bei Alchemie. Ein Stück Blei hat nicht die Erwartung, sich in Gold zu verwandeln. Auch der Alchemist ist nicht mit einem unscharfen Ergebnis konfrontiert. Er sieht sofort und unzweifelhaft, ob sich das Blei in Gold verwandelt hat oder nicht. Bei Alchemie gibt es keinen Placeboeffekt. Auch der pure Zufall verfälscht das Ergebnis nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Blei von selbst zufällig während des Experiments in Gold verwandelt, liegt bei 0%.

Rückkehr zum Normalzustand

Der Normalzustand des Körpers ist, gesund zu sein. Die meisten Krankheiten sind selbstbegrenzend, d. h. der Körper wird mittelfristig selbst mit der Krankheit fertig und kehrt zu seinem Normalzustand, der Gesundheit, zurück. Es gibt also einen typischen Verlauf dieser Krankheiten, mit einem Ansteigen am Anfang, einem Maximum, und einem Abklingen, das wieder beim Normalzustand endet. Eine erfolgreiche Behandlung muss in der Lage sein, das Maximum herabzusetzen und das Abklingen zu beschleunigen, so dass der Normalzustand schneller erreicht ist.

Eine beliebige Behandlung kann nun an jedem Punkt des Verlaufs einsetzen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie in der Nähe des Maximums einsetzt. Wie jeder von sich selbst weiß, geht man meistens erst zum Arzt oder zur Apotheke, wenn man es wirklich nicht länger aushält. Jede Behandlung, die um das Maximum ansetzt, auch eine völlig wirkungslose, kann also für sich beanspruchen, dass danach eine Verbesserung eingesetzt hat. Ob diese Verbesserung nun tatsächlich schneller und stärker war als wenn keine Behandlung erfolgt wäre, das kann man mit einem Einzelfall nicht beurteilen. Deshalb werden klinische Studien durchgeführt, in denen die Verläufe von zwei möglichst gut vergleichbaren Gruppen von Menschen beobachtet werden, von denen eine keine, oder besser eine Placebobehandlung, bekommt. Als Ergebnis weiß man dann, ob eine Behandlung tatsächlich hilft, und wie lange es im Schnitt nach dem Beginn der Behandlung dauert, bis eine Verbesserung einsetzt.

Man sollte nun meinen, dass wenn man mit einer wirkungslosen Behandlung vor dem Maximum beginnt und sich so die Krankheit zunächst verschlimmert, und auch keine klare Zeitschranke zu erkennen ist, nach der eine Verbesserung eintreten sollte, dass dann die Behandlung als wirkungslos erkannt wird. Weit gefehlt! Für diese Fälle hat die Pseudomedizin das Konzept der Anfangsverschlimmerung erfunden. Demnach soll eine Erkrankung prinzipiell für unbestimmte Zeit schlimmer werden können, bevor eine Heilung einsetzt. Zuweilen wird sie sogar als direktes Anzeichen der Heilung angesehen. Wenn keine gute Begründung für eine solche Ausnahme von der Regel gibt, und auch keine Erklärung stattfindet, wann die Ausnahme eintritt und wann nicht, entpuppt sich dieses Konzept schnell als pure Ausrede für die Wirkungslosigkeit.

Um wieder den Vergleich mit der Alchemie zu ziehen: Bei Metallen gibt es keinen solchen natürlichen Verlauf zwischen zwei Zuständen. Der Normalzustand eines Stücks Metall ist nicht, Gold zu sein und dazwischen eine zeitlang Blei. Der Alchemist kann nicht sein Experiment während des natürlichen Übergangs des Bleis zu Gold beginnen und das Ergebnis als Erfolg seines Experiments verbuchen. Der Normalzustand von Blei ist es, Blei zu sein, und der von Gold, Gold zu sein.

Fazit

Dies sind die zwei wichtigsten Gründe, warum es weiter Pseudomedizin geben wird. Auch wenn in immer hochwertigeren Studien mit immer besserem Design und immer besseren Placebos zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass eine Behandlung wirkungslos ist, werden die Verfechter immer wieder in der Lage sein, eine weitere schlecht entworfene Studie, ggf. ganz ohne Kontrollgruppe, zu veranstalten, die ein positives Ergebnis zeigt (das nichts anderes als den verbleibenden Placeboeffekt darstellt). Notfalls greift man auf Anekdoten zurück, denn „wer heilt hat recht”.