RatioBlog
Kritische Betrachtungen über Naturwissenschaften, Alternativmedizin, Alltagsmythen, Parawissenschaften und Wissenschaft in den Medien

10.
August
2009

Nassim Nicholas Taleb - The Black Swan

Geschrieben von Michael Hohner am 10. August 2009, 15:19:52 Uhr:

Die Macht der unwahrscheinlichen Ereignisse

Manchmal haben wir uns so an die Regelmäßigkeit der Welt gewöhnt, dass wir, wider besseren Wissens, einen unwahrscheinlichen Fall gleich als unmöglich erarchten. So wie die Ornithologen, die postulierten, „alle Schwäne sind weiß”. Bis dann in Australien schwarze Schwäne gefunden wurden und diese Theorie in sich zusammenfiel. Diese „schwarzen Schwäne” dienen Taleb als Metapher für Ereignisse der modernen Welt, die so unwahrscheinlich sind (oder auch nur so erscheinen), dass wir sie völlig aus den Augen verlieren. Besonders in der Finanzwelt gehen diese unwahrscheinlichen Ereignisse nicht ausreichend in Risikobewertungen ein, und sie treffen dann umso härter, wenn sie trotzdem eintreten.

Talebs Thesen im Einzelnen:

  • Unwahrscheinliche Ereignisse können, wenn sie doch einmal eintreffen, extreme Auswirkungen haben.
  • Vorhersagen, insbesondere in den Sozialwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften, sind extrem ungenau, da für eine genaue Vorhersage ein vollständiges Wissen aller Vorbedingungen vonnöten ist, was aber schlicht unmöglich ist. Desweiteren setzen diese Vorhersagen voraus, dass Menschen rational und vorhersagbar handeln, was ebenso meist nicht der Fall ist.
  • Die Treffsicherheit vorheriger Vorhersagen wird praktisch nie überprüft.
  • In Risikoanalysen geht immer nur das Bekannte oder das bekannt-Unbekannte ein, aber nie das oft viel ausschlaggebendere unbekannt-Unbekannte. Wir wissen oft, dass wir etwas nicht wissen, aber häufiger wissen wir gerade nicht, was wir alles nicht wissen.
  • Bei vielen Schlussfolgerungen werden die „stillen Nachweise” übersehen, also Nachweise, die zwar vorhanden sind, aber praktisch nie bekannt werden oder anderweitig in Erscheinung treten. Diese würden, wenn sie in eine Entscheidung einbezogen würden, oft eine andere – oft gegenteilige – Schlussfolgerung nach sich ziehen.

Kritik

Zunächst dauert es einige Zeit, bis das Buch in Fahrt kommt. Auf den ersten 100 Seiten werden zwar die Grundthesen klar, aber der rote Faden ist schwer zu finden. Taleb kreist ständig vage um das Thema, ohne gezielt auf den Punkt des Buches zu kommen. Einzelne Thesen werden eher undeutlich beleuchtet, meist mit wenig ausgefeilten, eher persönlichen Anekdoten. Manchmal gleitet der Autor geradezu ins Schwafeln ab, und mehr als einmal verwendet er eine schiefe, wenn nicht sogar grundsätzlich falsche Analogie.

Gekennzeichnet ist das Buch auch von verpassten Gelegenheiten. Wenn, was auch gar nicht bezweifelt wird, oft kleine Ursachen eine große, wenn nicht sogar revolutionäre und unvorhersagbare Wirkung hat, dann wäre es doch sicher ein Leichtes, anhand von einigen ausgewählten Beispielen der älteren und jüngeren Geschichte dieses Phänomen detailliert zu beleuchten. Stattdessen versteigt sich Taleb lieber in ein Dutzend kleiner Anekdoten, die weniger eine erhellende Einsicht erzeugen als ein unbefriedigendes Gefühl.

Desweiteren ist dem Buch anzulasten, dass kein Ausweg aus der Problematik aufgezeigt wird. Taleb benennt das Problem, aber schlägt keine wirkliche Lösung vor. Auf ganzen 11 von 300 Seiten geht er überhaupt auf eine Lösung ein, und widerspricht sich dabei prompt selbst. Sein Vorschlag für „kleine” Entscheidungen ist „sei vorbereitet, erwarte das Unerwartete”. Auf das Unerwartete kann man aber nicht vorbereitet sein (sonst wäre es nicht das Unerwartete). Genau dieses Dilemma hat Taleb auf den 200 Seiten davor ausführlich behandelt. Seine Strategie z. B. für Geldanlagen ist „90% in extrem sicheren Anlagen, 10% in extrem riskanten, aber potentiell hochprofitablen Anlagen”. Das mag keine schlechte Strategie sein, ist aber gerade eine solche, die den „schwarzen Schwan” provoziert. Staatsanleihen mögen sehr sicher sein, aber eine Staatspleite ist keineswegs unmöglich. Dieser selten eintretende Fall hätte dann einen Verlust von 90% zur Folge.

Warum zeigt nun Taleb keine gute Lösung? Das mag daran liegen, dass es keine gibt. Wenn es für den Mensch nicht möglich ist, die Zukunft exakt vorherzusagen, dann bleibt gar kein anderer Weg, als die Vergangenheit, so unvollständig unser Wissen über diese auch ist, als Basis für eine Vorhersage zu verwenden. Diese Strategie ist anfällig für den beschriebenen „schwarzen Schwan” und wird unvermeidlich früher oder später zusammenfallen, aber mir scheint dass wir schlicht keine bessere Strategie haben. Jede menschliche Entscheidung, die eine gewisse Tragweite hat, basiert zwangsläufig auf der Annahme, dass die wahrscheinlichsten Ereignisse der Vergangenheit auch in der Zukunft eintreten werden. Auch im vollen Bewusstsein um den „schwarzen Schwan” ist dies die einzig praktikable Entscheidungsstrategie. Den unwahrscheinlichen „schwarzen Schwan” vollständig zu vermeiden hieße jegliche Entscheidung zu vermeiden.

Am Ende bleibt von Taleb's Buch ein Gefühl der Leere. Die Thesen sind nicht wirklich neu, revolutionär oder besonders erhellend, eine Lösung oder wenigestens ein Aha-Effekt bleibt aus. Selbst um einen besonderen Lesegenuss wird man durch den Klein-Klein-Stil beraubt.

Wertung:

Englischsprachige Ausgabe:

Nassim Nicholas Taleb The Black Swan: The Impact of the Highly Improbable (Taschenbuch) Penguin ISBN 978-0141034591 Amazon.de

Deutschsprachige Ausgabe:

Nassim Nicholas Taleb Der schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse (Gebundene Ausgabe) Hanser Wirtschaft ISBN 978-3446415683 Amazon.de