RatioBlog
26.
April
2011

Charles Seife - Proofiness

Geschrieben von Michael Hohner am 26. April 2011, 22:10:17 Uhr:

The Dark Arts of Mathematical Deception

Blondinen werden in 200 Jahren ausgestorben sein. Frauen werden Männer im Jahr 2156 im 100-Meter-Sprint eingeholt haben. Frauen mit größerem Hüftumfang bringen mehr Jungen als Mädchen auf die Welt. Haferflocken senken den Cholesterinspiegel. Und ein höherer Energieverbrauch steigert die Lebenserwartung.

Was haben alle diese Aussagen gemeinsam? Sie wurden mathematisch exakt belegt. Und sie sind falsch.

Charles Seife beschreibt in „Proofiness”, wie man mathematisch korrekt und scheinbar präzise einen falschen Sachverhalt belegen kann. Immer, wenn in Pressemeldungen, in politischen Debatten oder in der Werbung eine konkrete Zahl genannt wird, dann steigt die scheinbare Glaubwürdigkeit der damit verbundenen Aussage. Oft genug sind solche Zahlen jedoch das Ergebnis von Fehlern, Übertreibungen, falschen Vergleichen, oder sogar reine Erfindungen. Trends werden falsch extrapoliert (wie in obigem Beispiel die Entwicklung der 100-Meter-Zeiten), oder aus einer statistisch gefundenen Korrelation wird unmittelbar eine Kausalität konstruiert (was ich auch schon thematisiert habe). Ergebnisse von Umfragen, dem Lieblingsinstrument von Journalisten, um aus der Nachrichtenflaute heraus ein scheinbares Ereignis zu konstruieren, über das berichtet werden muss, sind meistens nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind. Wenn überhaupt, wird bei solchen Umfragen nur die statistische Genauigkeit angegeben. Dabei sind systematische Fehler meist gravierender als die verbleibenden Ungenauigkeiten durch den puren Zufall.

Selbst die einfachsten mathematischen Alltagsaufgaben, wie z. B. das Zählen von Stimmen bei Wahlen, ist mit einer hohen Fehlerquote behaftet. Wenn ein Wahlergebnis bis auf die einzelne Stimme genau angegeben wird, dann täuscht das eine Präzision vor, die in der Realität nie erreicht wird. Die Auswerter verzählen sich, Zwischenergebnisse werden falsch addiert oder übertragen, und selbst wenn das fehlerfrei erfolgt sein sollte, dann gibt es immer ein paar Stimmzettel, bei denen man nicht genau sagen kann, für wen eigentlich die Stimme abgegeben wurde. Meistens sind die Fehler kleiner als die Abstände beim Endergebnis, weshalb sie meistens ignoriert werden können. Seife beschreibt aber ausführlich die Senatswahl 2008 in Minnesota, bei der nach der ersten Auszählung die Kandidaten nur um 206 Stimmen (0,007 %) auseinanderlagen. Es folgte daraufhin ein monatelanger Hickhack mit Nachzählungen, Streitereien darum, wann eine Abstimmung per Brief als „abgegeben” gilt und gezählt wird, wie uneindeutig ausgefüllte Stimmzettel zu werten sind (mit absurden Beispielen), und allerlei politische und juristische Winkelzüge. Ganz nebenbei erfährt man, wie man trotz perfekter Pattsituation bei Wahlen durch geschickte Wahlkreisaufteilung eine Mehrheit für einen Kandidaten herstellen oder erhalten kann.

„Proofiness” ist ein wichtiges Buch, aufklärerisch und einsichtstiftend. Gleichzeitig ist es aber unterhaltsam und leicht zu lesen (wenn man die Sprache ausreichend beherrscht; eine deutschsprachige Ausgabe ist noch nicht erschienen). Das Thema ist zwar die Mathematik im weiteren Sinne, aber Mathematikphobiker müssen sich vor diesem Buch nicht fürchten. Im Ganzen kommen nur eine Handvoll Formeln im Buch vor (meist als schlechtes Beispiel, wie z. B. die Formel für Glücklichkeit, die vor einigen Jahren in der Presse die Runde machte), und selbst mit diesen muss man sich nicht im Detail beschäftigen, um deren Probleme zu verstehen. Quellennachweise, Literaturverzeichnis und Index runden das Buch ab und erleichtern späteres Nachschlagen.

Wertung:

Charles Seife Proofiness - The Dark Arts of Mathematical Deception Viking ISBN 978-0-670-02216-8 Amazon