RatioBlog
29.
Juli
2011

Fehlschluss #14: Naturalistischer Fehlschluss

Geschrieben von Michael Hohner am 29. Juli 2011, 08:06:14 Uhr:

Der naturalistische Fehlschluss liegt vor, wenn von der Natürlichkeit der Prämissen auf die Richtigkeit der Folgerung geschlossen wird. Im sozialen Bereich werden so Normen postuliert, die alleine durch die natürliche Ausprägung der Prämissen bedingt sind.

Beispiel:

Männer sind von Natur aus stärker als Frauen, deshalb sollten sie auch ein größeres oder das alleinige Stimmrecht besitzen.

Hier wird vom natürlichen Sein unmittelbar das gesellschaftliche Soll abgeleitet. Dieser Schluss ist unzulässig.

Auch außerhalb des sozialen Bereichs gibt es diesen Fehlschluss, den man vereinfacht so darstellen kann:

A ist natürlich, B ist künstlich, also ist A zu bevorzugen.

Die Werbung, Öko-Bewegung, Alternativmedizin, usw. sind heutzutage geradezu durchseucht mit diesem Fehlschluss. Man muss sich nur einmal ein paar Herstellerbeschreibungen für Lebensmittel anschauen, die das Wort „natürlich” enthalten. Diese operieren mit der Suggestion „natürlich = gesund”. Bei genauerer Überlegung entpuppt sich das jedoch oft als falsch oder bedeutungslos und als reine Werbephrase.

Rohe Kartoffeln sind natürlich, aber ungenießbar, gekochte Kartoffeln sind einen Schritt vom natürlichen Zustand entfernt, aber genießbar und nahrhaft. Rohes Fleisch (natürlich) ist schwer bekömmlich, gebratenes Fleisch (künstlich) ist leicht verdaulich. Natürliches Getreide ist kaum essbar. Getrocknet, gemahlen, vermengt mit anderen Stoffen und gebacken (alles künstlich) ergibt es das Grundnahrungsmittel Brot. Natürliche Weidenrinde ist nur mäßig schmerzlindernd und nicht gut verträglich. Isoliert man aber die wirksame Substanz, verändert sie chemisch, und synthetisiert man sie am Ende von Grund auf (ohne Beteiligung von Weiden), dann bekommt man das wirksame und besser verträgliche Schmerzmittel Acetylsalicylsäure, besser bekannt unter dem Markennamen Aspirin. Blausäure, Uran, Rizin und EHEC sind alles Naturprodukte, und trotzdem sollte man sie besser nicht zu sich nehmen. Die Liste der Beispiele könnte ewig so weitergehen.

Die Natur ist nicht angetreten, um dem Menschen ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Die Natur kümmert sich in erster Linie um sich selbst. Wenn Pflanzen interessante Stoffe erzeugen, tun sie das zuerst zu ihrem eigenen Vorteil, z. B. um Fressfeinde abzuwehren. Nur durch Zufall ergeben sich daraus Nutzungsmöglichkeiten als Medikament für den Menschen. In anderen Fällen werden durch menschliche Eingriffe gezielt diese Stoffe wieder weggezüchtet, um eine Pflanze als Nahrung für Menschen genießbar zu machen. Praktisch keine Nahrungspflanze für Menschen kommt in der heutigen Form in der Natur vor. Selbst das, was der Ökolandbau als „natürlich” bezeichnet, ist das Ergebnis der gezielten Manipulation von Generationen von menschlichen Züchtern.

Wenn ein Produkt oder Verfahren alleine oder vor allem mit dem Wort „natürlich” angepriesen wird, sollten die Gegenfragen sofort „aber funktioniert es auch?”, „was ist der Unterschied zum künstlichen X?”, „ist das wirklich natürlich?” und „wenn ja, wollen wir das dann auch so?” lauten.

Noch mehr Beispiele:

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