RatioBlog
Kritische Betrachtungen über Naturwissenschaften, Alternativmedizin, Alltagsmythen, Parawissenschaften und Wissenschaft in den Medien

2.
August
2016

Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde - Die Praxis der Unbildung

Geschrieben von Michael Hohner am 2. August 2016, 07:30:12 Uhr:

Gelegentlich kaufe ich auch mal ein Buch, das etwas außerhalb meines sonstigen Interessensgebiets liegt. Auf Liessmanns „Geisterstunde” bin ich durch Zufall beim Stöbern gestoßen, und die Bewertungen waren recht gut. Die Bildungsreformen der letzten Jahre kamen alle nach meiner Schul- und Hochschulzeit, über letzteren habe ich über Bekannte auch nur gemischte Meinungen gehört. Das Buch erschien also als eine gute Gelegenheit, in dieses Thema tiefer einzusteigen.

Liessmann steigt in das Thema mit einer umfassenden, wenn auch nicht konkreten Kritik an den PISA-Studien und den darauf folgenden Reformen der Bildungssysteme an Schulen. Diese Reaktionen erscheinen ihm als „Panik”. Das Ziel, Kinder früher an bestimmte Inhalte heranzuführen als bisher, bringt er auf den folgenden Punkt:

Die Mittelstandseltern drängen denn auch auf die Hyperqualifizierung ihrer Kinder: Englisch im Kindergarten, Chinesisch in der Vorschule, computer literacy ab der Geburt […]

Und zur Idee, eher Kompetenzen als Wissen zu vermitteln:

Natürlich wäre es charmant, sich Weltverbesserungskompetenz oder Beziehungsfähigkeit einmal als Reifeprüfungsfach vorzustellen, aber so wird es wohl nicht gemeint sein, denn Prüfungen wird es in dieser Schule ohnehin keine mehr geben.

Eine Übertreibung mag gelegentlich ein passendes Stilmittel sein, um ein Argument auf die Spitze zu treiben. Wenn sich aber eine Übertreibung an die nächste reiht, ohne viel Inhalt dazwischen, dann gleitet der Text in Richtung unglaubwürdig ab.

Dass überhaupt länderübergreifende Studien und Vergleiche zur Bildungspolitik und deren Resultate stattfinden, ist Liessmann offenbar auch nicht genehm:

[…] herrschende Ideologie empirischer Überprüfbarkeit bildungspolitischer Erfordernisse […]

Der Begriff der „Ideologie” ist hier völlig fehl am Platz. Ein Merkmal von Ideologien ist es ja gerade, dass sie sich einer empirischen Überprüfung zu entziehen versuchen, dass die Ideen kategorisch als richtig bezeichnet werden. Wer fordert, dass sich Behauptungen an der Realität messen lassen müssen, wird schnell als „Verräter an der Sache” bezeichnet. Die Forderung nach Überprüfbarkeit ist also im Gegenteil ein Mittel, um Ideologien zu verhindern oder aufzudecken. „Ideologie empirischer Überprüfbarkeit” ist ein Oxymoron. Liessmann kann also bestenfalls beklagen, dass die Experten ihre eigenen Forderungen nicht erfüllen, aber nicht, dass ihre Forderungen eine Ideologie sind. Das ist nur eine von vielen Stellen, wo sich Liessmann in Rage geschrieben hat und prompt über das Ziel hinausschießt.

Auch an den prominenten Akteuren der Diskussion lässt Liessmann kaum ein gutes Haar:

In Deutschland sind es ein erfolgreicher philosophischer Autor […], sowie ein selbsternannter Hirnforscher […]. In Österreich […] – so die Selbstauskunft – ein „Unternehmensberater, Bestsellerautor und kritischer Vordenker”.

… also alles keine wirklichen Experten, schreibt der österreichische philosophische Autor und Publizist, der anscheinend ebenfalls keine wissenschaftliche Arbeit im Themenkreis der Bildungspolitik veröffentlicht hat. Warum man seiner Ansicht, dass die reformierten Bildungssysteme die denkbar schlechtesten sind, eher folgen sollte als der der genannten „Experten”, die angeblich das gleiche von den Systemen vor den Reformen behaupten, bleibt offen.

Dieser Stil zieht sich über die ersten 45 Seiten und bis zum 3. Kapitel durch. Als Leser nimmt man hier nur mit, dass PISA irgendwie schlecht ist und dass gefühlt die Bildung den Bach runter geht. Zwischen den Zeilen schimmert ein „früher war alles besser” durch. Aber was sind ganz konkret die Kritikpunkte? Was ist eine wenigstens potentielle Lösung? Wodurch begründet sich, dass diese Lösungen wirklich funktionieren können (wieder diese empirische Überprüfbarkeit…)? Und gibt es denn wirklich eine Krise? Man erfährt es nicht. Das Buch trägt zwar den Untertitel „Eine Streitschrift”, aber etwas mehr als einen länglichen Rant hätte ich schon erwartet.

Wer bis dahin das Buch noch nicht frustriert zur Seite gelegt hat, erfährt endlich in den nächsten Kapiteln mehr. Liessmann stößt sich daran, dass in der Schule „Kompetenzen” erlernt werden. Ziel von Bildung ist also nicht mehr, dass man etwas weiß, sondern dass man etwas kann, angeblich getrieben von ökonomischen Zwängen. Die verschiedenen Arten von Kompetenzen sind durchaus blumig beschrieben, und was die konkreten Inhalte sein sollen, erschließt sich einem nicht recht. Während man diese Kritik durchaus nachvollziehen kann, ist Liessmann selbst darin inkonsequent. Denn angeblich sind Schüler und Studenten zunehmend inkompetent und unfähig, selbstverantwortlich zu leben, und werden stattdessen durch Berater bevormundet. Sollte er da nicht gerade das Erlernen von Kompetenzen fordern? Denn

Niemand kann für alle Bereiche, die sein Leben betreffen, gleichermaßen sicheres Wissen erwerben, fundierte Urteile bilden und souveräne Entscheidungen fällen.

Oh, wie wortreich er hier den Begriff „kompetent sein” vermieden hat. Das, worauf er das halbe Buch lang eindrischt, ist die exakt passende Bezeichnung dessen, wasdessen Fehlen er hier bedauert.

Fehlen darf natürlich auch nicht die übliche Klage aller Kulturpessimisten: „keiner liest mehr ein Buch”. Die kurzen Textschnipsel von Twitter und Co. sind für ihn ein Zeichen, dass es mit der Schreib- und Lesefähigkeit der Bevölkerung abwärts geht. Dass Twitter nie als Buchersatz gedacht war, so wie früher z.B. die Kleinanzeigen in Zeitungen auch kein Buchersatz sein sollten, muss man wohl nicht erwähnen. Die Existenz von E-Books akzeptiert er zähneknirschend. Aber natürlich sind das keine „echten” Bücher, denn zu denen gehört angeblich dringend ein Schriftsatz, und dass man sie ins Regal stellen kann und später vielleicht in einem Karton auf dem Dachboden verschwinden lassen kann (aber merkwürdigerweise nicht, dass sie von Mönchen auf Schweinsleder mit Tinte und Feder handkopiert wurden, also etwas, mit dem auch Liessmann nicht mehr aufgewachsen ist). Ohne ein Buch aus Papier kann man laut Liessmann „nie richtig Lesen lernen” und keine Leselust entwickeln. Das Beste, was er über E-Books sagt, ist dass man damit wenigstens keine Ausrede mehr hat, nicht alle Klassiker zu kaufen und zu lesen. Zugegeben, ich lese auch lieber gedruckte Bücher. Aber im Gegensatz zu Liessmann sehe ich das als lediglich meine persönliche Präferenz und Gewohnheit. Ich würde nie behaupten, dass ein E-Book kein richtiges Buch wäre, das man nicht „wirklich” lesen kann. Ein Text wird durch den Inhalt und die innere Struktur zum Buch, nicht durch seine physische Repräsentation.

Warum ist jemand, der Angst vor dem Zerfall einer Sprachkultur hat, im Unrecht?

Man möchte hier zurückfragen „… und warum sollte er im Recht sein?”

Die Vorstellung einer virtuellen Hochschule ist Liessmann ein Graus, dass also die Studenten einer solchen Hochschule in kein bestimmtes Gebäude mehr gehen, Vorlesungen online verfolgen und Prüfungen über das Internet ablegen, nicht mehr in Bibliotheken zwischen Bücherregalen sitzen. Dass so etwas im Grunde seit hundert Jahren bereits existiert, nämlich in Form von Fernuniversitäten, bei denen lediglich das Medium ein anderes ist, erwähnt er mit keiner Silbe.

Zustimmen muss man Liessmann, zumindest teilweise, wenn er auf den zunehmenden Druck in den Hochschulen hinweist, die praktische Verwertbarkeit einer Forschung permanent nachweisen zu müssen, der ständigen Jagd nach Drittmitteln, die eine freie Forschung gefährdet. Leider driftet er auch hier wieder in maßlose Übertreibungen ab:

Gegenwärtig hat nur Wert, was materiell unmittelbar verwertbar ist […]

Das kann nicht unwidersprochen stehen bleiben. Gerade in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung wird viel Geld ausgegeben (und der Forschung damit ein Wert zuerkannt), obwohl selbst eine mittelbare wirtschaftliche Verwertbarkeit entweder nicht abzusehen ist oder so weit in der Zukunft liegt, dass man diese Investitionen in die Forschung nicht mit einem irgendwann mal denkbaren Profit aufrechnen kann.

Am Ende bleibt ein zwiespältiger Eindruck vom Buch. Es ist wie eine Frucht, die irgendwo einen wahren Kern haben mag, aber das Fruchtfleisch schmeckt komisch und ist stellenweise faul. Der Schlusssatz lautet „Anders ist besser”. Nun, viel mehr nimmt man von diesem Buch auch nicht mit.

Wertung:

Konrad Paul Liessmann Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Paul Zsolnay Verlag ISBN 978-3552057005 Amazon