März
2014
Über die qualifizierte Abwesenheit von Evidenz
Geschrieben von Michael Hohner am 7. März 2014, 09:26:00 Uhr:
Bei Diskussionen zwischen Theisten und kritischen Denkern landet man immer wieder ziemlich schnell bei der Frage, die all den Differenzen zu Grunde liegt: „existiert überhaupt ein Gott?”
Der kritische Denker wird dann darauf hinweisen, dass es seit tausenden Jahren trotz aller „Gottesbeweise” (die ohne Ausnahme scheiterten) nicht gelungen ist, die Existenz eines Gottes (oder sonstiger übernatürlicher Entitäten) nachzuweisen. Die Behauptung der Existenz muss demzufolge als widerlegt angesehen werden.
Der Theist wird dann argumentieren:
Ha! Abwesenheit von Evidenz ist aber nicht gleich Evidenz von Abwesenheit!
Der Theist hat im Grundsatz Recht: Von einem Fehlen von Evidenz für eine Sache kann man nicht zwingend auf eine Nichtexistenz einer Sache schließen. Der Theist glaubt, er hätte den kritischen Denker mit seinen eigenen Waffen geschlagen: „Du hast mit einem falschen Umkehrschluss argumentiert. Deine eigene Logik, auf die du so vertraust, hat dich widerlegt!”
Im Detail muss man diesem Argument in zwei Punkten widersprechen:
Zum Ersten beweist eine Abwesenheit von Evidenz zwar nicht zwingend die Nichtexistenz der Sache, aber erst recht nicht die Existenz der Sache. Der Theist mag die Position des kritischen Denkers minimal geschwächt haben, aber seine eigene Position hat er auf keinen Fall gestärkt.
Zum Zweiten argumentiert der kritische Denker selten mit absoluten Positionen, auch wenn die (verkürzte) Sprache das suggerieren mag. Die empirischen Wissenschaften können und wollen eine Behauptung nie zu 100% beweisen oder widerlegen. Empirisch kann man sich der „Wahrheit” immer nur annähern, aber sie nie erreichen. Man kommt zu Erklärungen, die Phänomene mit hoher und höchster Wahrscheinlichkeit richtig beschreiben, aber den letzten Rest an Unsicherheit kann man nie beseitigen. Die Frage von Abwesenheit von Evidenz versus Evidenz von Abwesenheit ist also in der realen Welt ebenfalls kein Absolutum, sondern eine Frage des Grades.
In diesem Fall muss also beim Hinweis auf die Abwesenheit von Evidenz die Zusatzfrage gestellt werden, wie intensiv man denn nach Evidenz gesucht hat. Je länger und intensiver man nach Bestätigung oder Widerlegung sucht, und je öfter (oder im Grunde immer) sich die Hinweise auf eine Existenz beim genauen Hinsehen als Illusion herausgestellt haben, desto deutlicher schwingt das Pendel auf die Seite der Nichtexistenz. Es gibt also einen qualitativen Unterschied zwischen „wir haben nichts gefunden” und „wir haben jahrelang intensiv gesucht und immer noch nichts gefunden”. Wenn intensive Versuche angestellt werden, die eigentlich die Existenz einer Sache nachweisen müssten, aber trotzdem nichts gefunden wird, dann liegt eine qualifizierte Abwesenheit von Evidenz vor.
Eine Analogie kann den Unterschied noch deutlicher machen:
Angenommen, ich vermisse meinen Autoschlüssel. Ich vermute, dass er sich nicht im Haus befindet. Ich suche aber trotzdem die üblichen Stellen ab, wo er liegen könnte. Dann drehe ich noch alle Jacken- und Hosentaschen um. Er liegt auch nicht unter den Papierstapeln auf dem Schreibtisch. Ich schaue in sämtliche Schubladen, dann unter alle Sofas, Stühle und Schränke. Ich rücke die Schränke nach vorne. Vielleicht hat die Katze den Schlüssel weggetragen, und auch die weniger zugänglichen Stellen werden abgesucht. Auch absurde Plätze wie das Innere des Kühlschranks werden nicht ausgelassen. Dann erweitere ich meine natürlichen Sinne und durchleuchte die Wände mit Ultraschall und Röntgen, schließlich könnte der Schlüssel auch durch einen wahnsinnig unwahrscheinlichen Zufall dorthin verschwunden sein. Dann kommen noch alle Nachbarn vorbei, und alle suchen 2000 Jahre lang. Aber alle Mühe ist vergeblich, der Autoschlüssel bleibt unauffindbar.
An dieser Stelle würde jeder sagen: „Der Autoschlüssel ist nicht im Haus.” Der obige Theist müsste aber in letzter Konsequenz sagen: „Ich habe den Schlüssel nicht gefunden. Aber Abwesenheit von Evidenz ist nicht gleich Evidenz von Abwesenheit. Deshalb bleibe ich bei meiner Position, dass der Schlüssel im Haus ist.”
Diese Diskussion findet so ähnlich auch auch bei den Themen „Geister”, „UFOs”, „Bigfoot”, „Alternativmedizin”, usw. statt. Wenn die 100ste niederqualitative Studie wieder keine Schlüsse zulässt, und die 100ste hochqualitative Studie wieder keine Wirksamkeit von z. B. Homöopathie feststellt, dann dauert es nicht lange bis zum Argument
Diese Studien mögen keine Wirksamkeit belegt haben. Aber das heißt ja nicht, dass Homöopathie generell unwirksam ist. Weitere Forschung ist notwendig.
oder
Auch diese Himmelserscheinung hat sich als rein natürliches Phänomen herausgestellt. Aber das heißt nicht, dass die Erde nicht von Außerirdischen besucht wird. Sie sind unter uns!
Offenheit für alternative Erklärungen heißt nicht nur, bereit zu sein, seine Meinung zu ändern. Es heißt vor allem, die eigene Meinung der Nachweislage anzupassen, egal ob diese den bisherigen Ansichten widerspricht oder sie auch bestätigt. Wer eine überwältigende Mehrheit von aussagekräftigen Nullergebnissen ignoriert, der ist gerade nicht offen, sondern ein Opfer von selektiver Wahrnehmung und blindem Wunschdenken.